10. Oktober 2016 | Ausgabe 11

Wir brauchen neuen Stoff

Die Mode steckt in der Krise: Sie soll immer schneller, in immer größerer Menge und am besten zu kleinen Preisen verfügbar sein. Aber die Ressourcen werden knapper. Sie muss sich völlig neu erfinden.

TEXT Alex Bohn | FOTOS Lars Borges

Zwei junge Frauen sitzen nebeneinander auf der Fensterbank eines Bekleidungsgeschäftes und halten ein durchsichtiges Schild mit der Aufschrift „Fashion“ in den Händen. Eine Illustration streicht das Wort durch.

„Ich hatte gehofft, dass das nicht passiert. Ich habe leidenschaftlich gekämpft“, sagt der Designer Ennio Capasa. Aber dann musste er es doch tun: Er verließ zusammen mit seinem Bruder Carlo das eigene Modelabel Costume National im März dieses Jahres. Sie hatten es vor 30 Jahren gegründet und galten unter den italienischen Modemarken als eigensinnig und puristisch. Seit die Sequedge Group das Label vor sechs Jahren übernommen hat, ist Kreativität zweitrangig geworden, es geht nur noch um Profit und Absatzsteigerung. Die Brüder Capasa sind nicht die Einzigen, die ihren Labels den Rücken kehren, weil diese in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, die laufend gute Zahlen abliefern müssen.

Zuvor verabschiedete sich der Belgier Raf Simons von Dior, der Designer Jean Paul Gaultier verließ sein gleichnamiges Label und die Holländer Viktor & Rolf gaben ihre Prêt-à-porter-Linie auf, die acht Kollektionen im Jahr hervorbringen musste. Stattdessen fertigen sie nur noch Haute Couture – die sie zweimal im Jahr präsentieren.

Dass die Designer ihre eigenen Häuser verlassen, hat einen Grund: Die Modeproduktion wird immer schneller. Das verschleißt Menschen, vor allem aber natürliche Ressourcen. Allein bei der Baumwollproduktion des vergangenen Jahres von über 22 Milliarden Kilo wurden etwa 374 Milliarden Liter Wasser verbraucht – das ist jede Stunde eine Tanklastwagenladung voll. Im Angesicht von Dürren und Hungersnöten ist es ein Hohn, dass die kostbare Ressource Wasser eingesetzt wird, um Mode zu produzieren, die oft nicht einmal als Wertsache geachtet wird. Im Gegenteil, sie ist in solchen Mengen und zu so kleinen Preisen verfügbar, das sie zur Wegwerfware verkommen ist. Laut einer Greenpeace-Studie aus dem Jahr 2015 besitzen die Deutschen 5,2 Milliarden Kleidungsstücke, von denen sie 40 Prozent nie oder sehr selten tragen und die sie auf den Müll werfen, wenn sie ihnen nicht mehr gefallen.

„Die Mode, wie wir sie kennen, ist tot“, sagte die renommierte Trendforscherin Li Edelkoort, die mit ihrer Beratungsfirma Trend Union internationale Kunden aus der Mode- und Designbranche berät. Sie weist in ihrer Trendvorschau für 2016 eindringlich darauf hin, dass die Modeindustrie als ein System, das systematisch kreative, soziale und ökologische Ressourcen verschleißt, um den eigenen Profit zu steigern, nicht zukunftsfähig ist. Will die Mode wieder auferstehen, so braucht sie einen radikalen Wandel. Aber wie kann der aussehen? Und wer wird ihn einleiten? Wir stellen die wichtigsten Ansätze und einige Vertreter der Avantgarde vor.

Portrait einer jungen Frau – Ilka Brand.
Fische sind schillernde Erscheinungen. Die Designerin Ilka Brand verwendet für ihre Laptop- und Handytaschen übrig gebliebene Fischhäute der Lebensmittel­industrie. Das alternative Leder wird mit Pflanzenfarben gefärbt – und sorgt trotzdem für einen schillernden Auftritt.

Die neue Transparenz

Für die Trendforscherin Li Edelkoort geht es in der Mode immer um Vertrauen. Mit ihrer schwarz gerahmten Ray-Ban-Brille,
ihrem streng geschnittenen Pagenkopf und dem bodenlangen Gewand aus türkisfarbenem Pannesamt sieht sie aus wie eine Hohepriesterin. Ihren Zuhörern verkündet sie in ihrem Vortrag „The Emancipation of Everything“: „Die Verbraucher wollen der Kleidung, die sie tragen, vertrauen, sie wollen den Fasern vertrauen.“ Darauf müssen Designer heute reagieren.

Als Juliana Holtzheimer und Anna Bronowski vor zwei Jahren ihr Diplom an der Hamburger Akademie für Mode machen, sind sie sich einig, dass sie keine konventionell produzierte Mode gestalten wollen – ein anonymes Produkt, das wie vom Himmel gefallen in den Regalen der Geschäfte landet und oft auf Kosten von Mensch und Umwelt hergestellt wird. Mit ihrem Label Jan ‘n June möchten sie, dass ihre Kunden nachvollziehen können, was sie auf der Haut tragen und woher es stammt.

Die Modedesignerinnen lassen ihre gesamte Kollektion bei einer Familie im polnischen Breslau produzieren. Dank der geringen Entfernung können sie oft vor Ort sein. Keinerlei Arbeiten werden an Dritte weitergegeben, sondern alles bleibt in der Hand der Familie. Jan ‘n June verwendet für ihre hanseatisch geradlinige Mode – zu der Hemdblusenkleider genauso gehören wie Bodys aus gerippter Baumwolle und hochgeschlitzte Jerseyröcke – ausschließlich Materialien, die nachvollziehbar produziert und ressourcenschonend hergestellt werden. Dazu gehört zertifizierte Biobaumwolle, für deren Produktion deutlich weniger Wasser und deutlich weniger Pestizide eingesetzt werden müssen. Nach neuen Materialien fahnden sie am liebsten auf der Stoffmesse Munich Fabric Start, wo sie beispielsweise recyceltes Polyester aus geschredderten PET-Flaschen fanden und nun gern verwenden. „Der Markt für nachhaltige Stoffe, die transparent produziert werden und eine gute Umweltbilanz haben, ist noch überschaubar“, sagt Anna Bronowski, „aber ich denke, die Produzenten verstehen allmählich, dass es ein lohnender Markt ist.“ Während die Auswahl vor zwei Jahren besonders im Bereich Wolle oft nur aus Braun und Beigetönen bestand, wird das Angebot inzwischen breiter, die Stoffproduzenten reagieren auf die steigende Nachfrage. Jan ‘n June arbeitet beispielsweise mit den Materialien Viskose, Modal und Tencel – das sind aus Holz gewonnene Fasern, die umweltschonend sind. Um sie herzustellen, wird ein ungiftiges Lösungsmittel verwendet, das in einem geschlossenen Kreislauf immer wieder verwendet werden kann. Und sie haben einen neuen Stoff gefunden, der sie begeistert: „Für die kommende Winterkollektion haben wir zum ersten Mal recycelten Polyester-Satin verwendet“, sagt Anna Bronowski, „von dem türkischen Hersteller Ipeker.“ Er hat Qualitäten, die man sonst nur von dem Naturstoff Seide kennt, fühlt sich weich an, glänzt matt und hochwertig und ist außerdem atmungsaktiv. Jan ‘n June verarbeitet ihn zu einem ebenso schönen wie zeitlosen Trägertop, wahlweise in Schwarz oder Türkis.

Auch Ilka Brand, die mit ihrer Marke Lapàporter Accessoires aus Leder herstellt, ist immer auf der Suche nach neuen Materialien. Sie mag strukturierte Leder, will für die Hüllen von Smartphones, I-Pads und Laptops aber kein Schlangenleder verwenden. Die Berliner Designerin stieß als Alternative auf Fischleder – und war begeistert. „Es erleichtert mein Gewissen, Abfallprodukte aus der Lebensmittelindustrie zu so schönen Produkten verarbeiten zu können“, sagt Ilka Brand. Tatsächlich sehen ihre Laptop- und Smartphonehüllen so hochwertig aus, wie man es von luxuri­ösen Lederartikeln kennt. Es gibt sie in einer Farbpalette von Altrosa über Türkis, Mitternachtsblau bis hin zu Cognacbraun und tiefem Schwarz. Aber anders als bei Produkten von Marken wie Louis Vuitton oder Prada weiß der Kunde bei Lapàporter, woher die verwendeten Materialien stammen und wie sie gefärbt wurden – mit Pflanzenfarben und ohne den Einsatz giftiger Chromsalze, die im Verdacht stehen, krebserregend zu sein. Ein bisschen Aufklärungsarbeit musste die Designerin für das Fisch­leder allerdings leisten: „Die meisten Kunden schnuppern erst einmal skeptisch an den Hüllen aus Lachsleder. Sie denken, Fischleder riecht wie Fisch. Tut es aber nicht.“

Ein Mann mit Basecap hält sich die Hände vors Gesicht. Er trägt viel Goldschmuck und lackierte Nägel.

Das Genie denkt: Der Berliner Bobby Kolade gilt als schräger Durchstarter in der Modewelt. Statt Tierhäuten verwendet er für die Lederteile seiner Modekollektionen die Rinde des Feigenbaums, Bark Cloth genannt. Genialer Gedanke.


Erfinderisch zu sein, ist für den im Sudan geborenen und in Berlin lebenden Designer Bobby Kolade eine wichtige Tugend. „Die Möglichkeit, frei zu denken und experimentell zu gestalten, ist die Grundlage meiner Arbeit“, sagt der 29-jährige Modedesigner, der mit ungewöhnlichen Materialkombinationen und expressiven Schnitten für frischen Wind auf der Berlin Fashion Week sorgte. Als überzeugter Vegetarier machte er unter anderem mit einem Lederersatzprodukt von sich reden, das bislang kaum zum Einsatz kommt: die Rinde des Feigenbaums, genannt Bark Cloth. Kolade bezieht es von Fairtrade-Bauern in Uganda und verarbeitet es zu Kleidungsstücken und Handtaschen. Auch unbehandelte, handgewebte Baumwolle aus Äthiopien taucht immer wieder in seinen Kollektionen auf – er kauft sie nicht etwa auf einer Stoffmesse, sondern direkt in Äthiopien. „Wir würden gern mit viel mehr zertifizierten Stoffen arbeiten, denn so hat der Verbraucher die Garantie über die soziale und/oder ökologisch verträgliche Produktion der Stoffe“, sagt er. „Aber für ein kleines Label wie uns ist es oft unmöglich, überhaupt die Mindestbestellmengen der Stoffhändler abzunehmen, die auf den Messen vertreten sind.“ Seine freigeistige Mode soll nicht auf Kosten der Umwelt produziert werden, deswegen hält er alle Wege möglichst kurz. Das Bark Cloth und die unbehandelte Baumwolle bringt er von Privatreisen mit, alle anderen Stoffe werden in Europa produziert und verschickt. Seine gesamte Produktion wickelt Bobby Kolade in Franken ab – wie Jan ‘n June setzt auch er auf einen Familienbetrieb. „Ich schätze das Vertrauensverhältnis, das ich mit ihnen habe, und ihr Qualitätsverständnis. Einen weit entfernten Produktionsstandort zu wählen, nur um die Kosten zu mindern, liegt mir einfach nicht.“

„Die Kleidung ist die schützende Hülle, mit der wir uns gegen die Umwelt wappnen“, sagt die Trendforscherin Li Edelkoort in der Trendvorschau für das Jahr 2017. Kleidung ist uns so nah wie sonst kaum etwas. Wenn Kunden bei findigen Designern wie Jan ‘n June und Bobby Kolade kaufen, wissen sie genau, woher die Mode stammt, woraus sie besteht und wie und von wem sie hergestellt wurde. Doch solche Überzeugungen setzen sich in der Modewelt nur langsam durch.

Nach dem Ende der letzten London Fashion Week diskutierten die namhaftesten Redakteurinnen des Condé Nast Verlags auf dem Onlineportal Vogue.com über das Ergebnis der Modewoche: „Schwarz ist das neue Weiß, Brüste sind die neuen Hintern“ – die üblichen Stilkritiken. Nur eine Stimme schlug im Chor andere Töne an: Maya Singer, langjährige Redakteurin der amerikanischen Vogue, sagte, es sei ja schön und gut, Designer nach ihrer Kreativleistung zu beurteilen. Mindestens genauso wichtig aber sei es, sie daran zu messen, welche Auswirkung ihre Mode auf die Umwelt hat. „Ich glaube, sie wären bessere Designer, wenn sie sich sehr genau überlegen müssten, welche Wirkung jedes einzelne ihrer Produkte auf die Umwelt hat. Und wir Journalisten müssten uns weniger überflüssiges Zeug ansehen.“ In den konventionellen Modemedien steht Maya Singer mit dieser Meinung weitgehend alleine da. Und auch in der Modeindustrie wird ökologisches Produzieren eher ungern thematisiert. Selbst die Kering-Gruppe – ein Luxus-Konglomerat, zu dem neben Gucci auch die auf Nachhaltigkeit bedachte britische Modemarke Stella McCartney gehört – lässt ihre Nachhaltigkeitsanätze lieber im Verborgenen.

Eine Frau hält eine Stoffrolle in den Händen und lächelt in die Kamera.

Die Rolle der Frau: Genügsamkeit. Wibke Deertz unterwirft sich nicht dem Diktat der Überproduktion. Ihre Kollektionen werden aus den Stoffresten großer Labels in kleiner Stückzahl gefertigt.


Die neue Genügsamkeit

Die Designerin Wibke Deertz will das anders machen. Sie verbraucht bewusst weniger Stoffe – und redet darüber. „Dass ich nicht unnötig Ressourcen verschwenden will, war mir von Anfang an klar“, sagt die Berlinerin, die mit ihrem Label A.D.Deertz seit 16 Jahren unaufgeregte Männermode produziert, deren Schönheit im Detail der unterschiedlichen Stoffe und Farben liegt. Sie arbeitet mit Stoffresten, die sie zum Teil in portugiesischen Stoffbetrieben entdeckt, von denen sie ihre Mode produzieren lässt. „Manchmal ist das eine fast detektivische Arbeit“, sagt sie. „Ich stoße auf Restbestände hochwertiger Stoffe, die große Textilproduzenten wie Calvin Klein oder Lacoste bestellt, aber nicht genutzt haben und die in irgendeinem Winkel verstauben. Ich kann hochwertige Stoffe günstig kaufen und zu einem vergleichsweise kleinen Preis anbieten.“

Entstanden ist diese Arbeitsweise aus der Herausforderung, mit der alle Kleinproduzenten umgehen müssen: Die Mindestbestellmengen großer Stoffproduzenten von 100 oder manchmal sogar 200 Metern sind für kleine Marken oft nicht zu stemmen. Wibke Deertz gefällt außerdem, dass sie so mit bereits vorhandenen Ressourcen arbeitet. Sie will nicht mehr produzieren, als sie verkaufen kann.

„Ich habe nie mehrere Kollektionen im Jahr produziert. Diesen Zwang, immer mehr und immer Neues herzustellen, dem die großen Marken unterliegen, halte ich für unsinnig. Wenn es nicht schon so viele Zertifikate gäbe, sollte man eines erfinden, das diejenigen erhalten, die sich dem Diktat der Überproduktion entziehen.“

Für die gebürtige Norddeutsche mit den kurzen blonden Haaren bedeutet das, eine übersichtliche Anzahl an Schnitten in kleiner Stückzahl zu produzieren. In ihrem Laden auf der Torstraße in Berlin-Mitte hängen auf vier Kleiderstangen maximal 30 unterschiedliche Jacken, Hosen, Pullover und Hemden – die Schnitte ändern sich selten, die Materialien aber schon. Ist ein Modell nicht mehr verfügbar, kann sie es auf kurzem Weg nachproduzieren lassen, eine Überproduktion, die sie am Ende der Saison zu Sale-Preisen verramschen muss, gibt es hingegen nicht.

Eine Frau schaut zukunftsweisend nach oben, ihr Haar weht im Wind.

Schau an: Die holländische Modemacherin Elsien Gringhuis will möglichst wenig Schnittabfall produzieren. Das Prinzip nennt sie: Zero Waste. Den Effekt nennt sie: Glück.


Die Holländerin Elsien Gringhuis hat einen anderen Ansatz. Mit ihrem gleichnamigen Label stellt sie Mode für Frauen her – moderne, tragbare Klassiker, viele von ihnen mit sportlichen Details, wie zum Beispiel ein weißer Blouson aus Biobaumwolle im Schnitt einer Bomberjacke. Elsien Gringhuis, die in Arnheim studiert hat und mehrfach für ihre Mode ausgezeichnet wurde, verwendet hauptsächlich zertifiziert nachhaltige Stoffe wie Biobaumwolle oder Ökoleinen und produziert ihre gesamte Kollektion in den Niederlanden. Sie entwickelt außerdem Schnittmuster, die Abfälle auf ein Minimum reduzieren, das so genannte „Zero Waste“-Prinzip. „Mich macht ein durchdachtes und funktionales Design sehr glücklich“, sagt sie. „Alle guten Dinge sind einfach, aber es gibt nichts Schwierigeres, als ein gutes, einfaches Design zu entwickeln.“ Ähnlich wie Wibke Deertz produziert auch Elsien Gringhuis saisonal unabhängig – eine Sommer- und eine Winterkollektion gibt es nicht. Stattdessen stellt sie ihre verschnittfreie Mode zu „Kapiteln“ zusammen. Einzelne Stücke kann sie so lange produzieren, wie der Stoff verfügbar ist. Geht ihr der Stoff aus, ist das „Kapitel“ zu Ende, denn Gringhuis produziert nur auf Bestellung.

Glaubt man der Trendforscherin Li Edelkoort, so deckt sich das Bewusstsein der Designer für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen durchaus mit dem Bedürfnis der Konsumenten. „Die Menschen wollen weniger konsumieren. Sie sind des Überangebots überdrüssig. Sie wollen Qualität statt Quantität.“ Auch die Otto-Trendstudie zum Thema „ethischer Konsum“ aus dem Jahr 2013 kommt zu ähnlichen Schlüssen. Demnach will die Mehrheit der Konsumenten in der Altersgruppe von 18 bis 64 lieber ethisch produzierte Mode – also sozial und ökologisch verträgliche – konsumieren als konventionell produzierte. Und sie ist sogar bereit, dafür ein wenig mehr Geld auszugeben. Das klingt, als wäre das Konsumgut Mode auf dem besten Weg, von der Wegwerfware zur Wertsache zu werden.


Die neue Langlebigkeit

Es ist noch gar nicht so lange her, da war Kleidung eine Wertsache, die es zu pflegen und zu hegen galt. Vor der Industrialisierung wurde Mode handgefertigt und lokal produziert. Durchschnittsbürger besaßen neben ihrer Alltags- und Arbeitskleidung nur ein weiteres Outfit, den „Sonntags-Staat“, den so genannten „guten Anzug“ oder das „Sonntagskleid“, das nur zu Feiern oder zum Kirchgang getragen wurde. Defekte Kleidung wurde repariert, zu klein gewordene Sachen wurden weiter­gegeben. Kleidung im Überfluss war dem Adel vorbehalten; nur er verfügte über ausreichend Geld, um mehr Kleidung anzuschaffen, als er tragen konnte. Durch die Mechanisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelten sich Webereien von Handwerksbetrieben zu industriellen Betrieben. Als dann die Textilproduktion in Länder ausgelagert wurde, in denen die Löhne wesentlich geringer waren als hier zu Lande, begann die Entwertung der Mode. Sie wurde massenhaft zu immer niedrigeren Preisen verfügbar und verkam zur Wegwerfware.

Besonders in den skandinavischen Ländern steuern Designer und Unternehmen heute gegen diese Entwicklung an. So bieten die Marken Acne Studios und Nudie Jeans, die beide als Jeans-Hersteller bekannt sind, einen Reparaturservice an. Alle Waren, deren Kaufdatum nicht länger als zwei Jahre zurückliegt, können kostenlos repariert werden. Das gilt für das Mottenloch im Kaschmirpullover genauso wie für die aufgescheuerte Jeans. Auch ältere Waren nehmen die Marken an und reparieren sie, nachdem sie dem Kunden einen Kostenvoranschlag gemacht haben.

Zwei Frauen sitzen auf Hockern, im Hintergrund eine behangene Kleiderstange. Vor Publikum wird die eine der beiden Frauen von der anderen interviewt.

Perfekt platziert: Nachhaltigkeitsberaterin Elin Larsson vom schwedischen Label Filippa K zwischen Kleiderstange und Pflanze. Das fasst die Firmenphilosophie ganz gut zusammen.


Die schwedische Marke Filippa K, die zeitlose Mode für Männer und Frauen produziert, geht noch einige Schritte weiter: Der Reparaturservice ist nur ein Element von vielen Prinzipien, die darauf abzielen, Mode als Wertgegenstand zu begreifen. „Nachhaltigkeit ist für uns der Schlüssel zum Wachstum“, sagt Elin Larsson. Sie ist genau dafür die Beauftragte im Konzern. Für sie ist das keine hohle Phrase, sondern eine sorgfältig ausgearbeitete Strategie der Langlebigkeit. Sie beginnt damit, dass im Laden neben den neuen Produkten – geradlinige Basics, zu denen Baumwoll-T-Shirts gehören, genau wie Jacketts aus
weichem Wollstoff, Bundfaltenhosen mit messerscharfer Falte und lässig fallende Sommerkleider aus Jerseystoffen – auch Vintage-Stücke aus früheren Kollektionen zu finden sind.

Ein Kunde, der die Nase voll hat von seinem Filippa-K-Produkt, bringt es einfach in den Laden zurück. Je nach Zustand wird es im Vintage-Sortiment aufgenommen oder in das hauseigene Recycling-Programm gegeben. Wer etwas kauft, wird von dem gut geschulten Personal darüber informiert, wie das Kleidungsstück gepflegt werden sollte, um möglichst lange zu halten. Nicht zu oft und nicht zu heiß waschen, Wollpullover mit dem so genannten „Sweater Stone“ von Knötchen befreien. Aber man muss die Mode von Filippa K nicht kaufen, wenn sie einem gefällt. Man kann sie ebenso gut leihen. Für einen Bruchteil des Preises, für einen Zeitraum von ein bis vier Tagen. „Viele Sachen braucht man nur für eine bestimmte Gelegenheit, eine Veranstaltung, ein Fest und so weiter“, sagt Elin Larsson. Dieses Programm nennt sich „Lease“, es ist in den skandinavischen Ländern seit über einem Jahr, in Deutschland ab diesem Sommer verfügbar.

Aber die Idee von der möglichst langen Lebensdauer der Kleidungsstücke und der Wertigkeit der Mode an sich geht noch einen Schritt weiter. Filippa K arbeitet mit einem zirkulären Design. Die Kleidungsstücke, die recycelt werden, werden zu neuer Mode verarbeitet. Zum Beispiel werden Jacketts und Mäntel aus schwarzer Wolle geschreddert, neu gesponnen und zu neuer Kleidung geschneidert. Das Färben entfällt, das spart Ressourcen und Geld. Da das Recycling-Programm erst seit 2015 läuft, ist noch nicht genug Material zusammengekommen, um daraus eine neue Produktion zu machen. Aber bereits jetzt arbeitet Filippa K mit recycelter Wolle von einem italienischen Betrieb, der seinen Rohstoff aus dem Verschnitt großer Modemarken produziert. Der Anteil der recycelten Materialien in den Kollektionen betrug 2015 über 50 Prozent, Tendenz steigend.

Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass sowohl international operierende Marken wie Filippa K als auch kleine Labels verstehen, dass die Mode sich ändern und wieder zu einer Wertsache werden muss, die mit Augenmaß produziert wird.

Zwei Frauen stehen lächelnd hinter einer Kleiderstange.

Es ist was Persönliches: Die Designerinnen Eugenie Schmidt und Mariko Takahashi sammeln Kleidungsstücke und deren Geschichten. Ihre Kollektionen verbinden deswegen sowohl Stoffliches wie Feinstoffliches.


Für das Designer-Duo Schmidttakahashi ist Kleidung schon immer etwas sehr Persönliches. Was in ihrem Studium an der Hochschule in Weißensee als Projekt begann, haben Eugenie Schmidt und Mariko Takahashi zur Vision ihres gesamten Geschäfts gemacht: Sie arbeiten abgelegte Klamotten, die ihnen gespendet werden, zu neuen Designerstücken um. Dabei sammeln sie von den Spendern nicht nur die Kleidungsstücke ein, sondern auch die Geschichte, die sie damit verbinden, schreiben sie auf und archivieren sie. Dann entwerfen sie neue Kleidungsstücke, allesamt geprägt von ihrer minimalistischen Handschrift. Es entstehen Jacketts, Hosen und Kleider, die nicht durch ein extravagantes Design auffallen, sondern durch ihre ungewöhnlichen Materialzusammenstellungen. So ist es kaum verwunderlich, dass sie die aus Streifen einzelner Jeans zusammengenähten Hosen und Röcke oder die grob gestrickten Tops, die aus dem Innenfutter unzähliger Jacketts von Hugo Boss gefertigt wurden, „Unikate“ nennen. Sie sind ebenso sehr Kunststück wie Konsumprodukt. Wer ihre Mode kauft, kann ihre bisherige Geschichte mithilfe einer ID-Nummer zum vorherigen Besitzer zurückverfolgen.

Schmidttakahashi beweisen, dass Upcycling viel mehr ist als eine Basteltechnik, inzwischen verkauft sogar das internationale Modeportal LN-CC ihre Kleidung. „Für uns ist Mode ein Gegenstand, der wertiger und persönlicher wird, je länger man ihn trägt“, sagt Eugenie Schmidt.

Es liegt im Wesen der Mode, dass sie dem Zeitgeist immer neue Formen gibt, dass sie die Gegenwart widerspiegelt, dass sie sich ständig verändert. Die ersten Designer reagieren nun also darauf, dass unsere Welt nicht unbegrenzte Ressourcen kennt. Hoffen wir, dass der neue Stoff der neuen Designer keine Modeerscheinung bleibt. Und die Designer nicht irgendwann enttäuscht ihre eigenen Häuser verlassen müssen.

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